Familienkonstellationen wandeln sich. Doch Kinder wollen am liebsten mit beiden Elternteilen zusammenleben. Die Gesellschaft hält diese Illusion aufrecht. Erschienen in: Arbeit&Wirtschaft, 12/2012.

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Was denken sich so Eltern eigentlich? Stehen im Vorzimmer und keifen einander in Superlautstärke an und meinen, der Nachwuchs ist taub?“ Karli

Welches Kind kennt nicht die Bücher von Christine Nöstlinger? In „Sowieso und überhaupt“ schildert die österreichische Kinderbuch-Autorin eine Scheidung aus Sicht der drei Geschwister Ani, Karli und Speedi. Was die große Schwester Karli oben schildert, wird von Eltern nach wie vor meist übersehen, wenn der Ehesegen schief hängt: Es lässt sich vor den Kindern nicht verheimlichen. „Kinder haben sehr feine Antennen und sie bekommen mit, wenn sich auch nur atmosphärisch etwas verändert“, meint Harald Werneck, Entwicklungspsychologe an der Uni Wien. Nichtsdestotrotz versuchen Eltern immer den Schein zu wahren. Sinnvoll ist das absolut nicht, erklärt der Wissenschaftler: „Es ist besser, Kindern reinen Wein einzuschenken. Bekommen die Kinder einen Streit mit, ist es gut, das vor ihnen auszudiskutieren, damit sie es verstehen können.“ Allerdings: „Es muss in kindgerechter und altersadäquater Art und Weise passieren.“

Kinder werden mitgeschieden

„O.k., sage ich mir, wenn sich Ehefrau und Ehemann nicht mehr vertragen, dann ist es ihr gutes Recht, sich zu trennen! Wäre ja auch tiefes Mittelalter, wenn es keine Scheidung gäbe! Aber in Wirklichkeit sehe ich das überhaupt nicht ein. Die Kinder werden ja mitgeschieden. Und weder die Karli noch ich, und der Speedi schon gar nicht, wollen vom Vater geschieden werden!“

Die gesellschaftlichen Realitäten haben sich verändert. Zwar lebt der Großteil der Kinder in Österreich immer noch in der „klassischen Kernfamilie“, doch fast die Hälfte aller Ehen wird geschieden, Patchwork-Familien werden immer verbreiteter, ungefähr zwölf Prozent der Kinder werden von einem Elternteil erzogen, meist von der Mutter. Das ändert allerdings nichts daran, dass Kinder ein großes Harmoniebedürfnis haben, wie es Ani in dieser Passage aus Nöstlingers Buch beschreibt. „Grundsätzlich wollen Kinder beide Eltern behalten, sie wollen, dass sie sich verstehen, sich nach einem Streit wieder versöhnen und zusammenbleiben“, so Werneck. Das gehe manchmal so weit, dass sie auch Jahre nach einer Scheidung immer noch an der Illusion festhalten, dass die Eltern wieder zusammenkommen: „Deshalb ist es wichtig, die Kinder zu informieren und sie nicht in Illusionen schwelgen zu lassen.“

Die Sehnsucht der Kinder nach Mutter und Vater hält der Wissenschaftler für wenig überraschend. Er räumt aber ein, dass diese auch von der Gesellschaft genährt werde. Denn so vielfältig Familienkonstellationen inzwischen sind, die heile Familie ist immer noch sehr präsent, ob in Filmen, Serien, Medienberichten oder Reden von PolitikerInnen. „Natürlich färbt es auf die Kinder ab, wie Familie in der Gesellschaft gesehen wird.“

Überraschend viele Eltern meinen ihre Kinder schonen zu müssen, weshalb sie sie im Unklaren lassen: „Es ist erstaunlich, wie viele Kinder sogar erst im Nachhinein von der Scheidung der Eltern erfahren. Entweder weil man sich nicht getraut hat, es den Kindern zu sagen, oder weil man dachte, den Kindern etwas Gutes zu tun. Aber es arbeitet in den Köpfen der Kinder“, gibt Werneck zu Bedenken.

Scheidung nicht nur Scheitern

Die Überlegungen von Ani aus Nöstlingers Buch zeigen auch, dass sich hier bereits einiges verändert hat. Immerhin wird eine Scheidung nicht mehr nur als Scheitern erlebt, wie Entwicklungspsychologe Werneck bemerkt. „Vor ein oder zwei Generationen war es für die Kinder noch mal ein Stück härter. Das ist heute deutlich anders, vor allem in der Großstadt wird man nicht mehr als gescheiterte Existenz gesehen.“ Allerdings würde man sich „in die Tasche lügen“, wenn man annehme, dass die Kinder locker damit umgehen. „Das heißt aber nicht, dass es nicht Wege gibt, relativ gut damit klar zu kommen“, so Werneck. Von Bedeutung sei auch, wie die Beziehung zu den Eltern vorher gewesen ist. War das Verhältnis zum Vater eh schon schlecht, zum Beispiel weil es gewalttätige Auseinandersetzungen gegeben hat, „kann die Scheidung für die Kinder auch eine Erlösung sein.“ Anders sei es, wenn die Trennung den Verlust des geliebten Papas bedeutet, wie in Nöstlingers Buch. Insgesamt hält der Psychologe fest, dass man nicht alles über einen Kamm scheren kann.

„Es ist sagenhaft: So lange bei uns daheim alles in Ordnung war, sind mir meine Brüder, sowohl der kleine als auch der große, unheimlich auf die Nerven gegangen (…)! Seit die ganze Familienscheiße so richtig am dampfen ist, habe ich die beiden nur mehr lieb. Wir sind eine richtige Kummer-Genossenschaft geworden.“

Komplexe Geschwisterbeziehungen

In familiären Krisensituationen können Geschwister eine wichtige Stütze sein, aber auch unabhängig davon gute Gefährten. Wünscht sich eigentlich jedes Kind Geschwister? „So lange sie nicht da sind“, scherzt Werneck. Geschwisterbeziehungen sind unheimlich komplex. Der Psychologe fragt in seinen Lehrveranstaltungen oft nach, wie dies seine Studierenden sehen: „In den meisten Fällen wird es trotz Streitereien und Rivalitäten positiv gesehen.“ Je geringer der Altersabstand, desto intensiver meistens die Beziehung. Gleichgeschlechtliche Geschwister seien sich oft näher. Das Spektrum sei aber breit und es ändere sich im Laufe des Lebens: „Im jungen Erwachsenenalter, wenn man selbst eine Familie gründet, verlieren die Geschwister oft an Bedeutung. Oft kommen sie sich im hohen Alter wieder näher, manche ziehen sogar wieder zusammen.“

Grundsätzlich bräuchten Kinder Kinder. „Wenn es keine Geschwister gibt, ist man gut beraten frühzeitig zu organisieren, dass sie in Kontakt mit Gleichaltrigen kommen, etwa in Krippe, Kindergarten oder mit Kindern im Umfeld. Es gibt Aspekte, die können nur Kinder verstehen, zum Beispiel beim sozialen Lernen. Da braucht’s auch Erwachsene, aber Erwachsene können Kinder nicht ersetzen.“ Insofern könne ein Kindergarten auch dann Sinn machen, wenn es Geschwister gibt. Was die Akzeptanz von öffentlicher Kinderbetreuung betrifft, sei man in Österreich zwar weit entfernt von dem, was in skandinavischen Ländern oder in Frankreich Alltag ist. Aber gerade in den vergangenen zwei Jahren habe sich sehr viel getan, findet Werneck: „Kinderkrippen werden nicht mehr als Notlösung gesehen.“ Ein Problem sieht der Psychologe jedoch in der Qualität: „Österreich ist das einzige Land, in dem es keine akademische Ausbildung gibt.“ Dazu komme, dass der Betreuungsschlüssel oftmals schlecht sei. „Wenn man mit 15 Wickelkindern allein ist und vielleicht alle gleichzeitig Hunger haben: Da kann man noch so gut ausgebildet sein, aber da ist eine Person überfordert.

„Immer muss ein anderer auf mich aufpassen. Und keiner tut es gern. Bis auf die Oma. Die freut sich, wenn ich bei ihr bin. Oder sie bei mir. Darum hätte ich es so gern, wenn die Oma bei uns wohnen würde.“

Als es dem kleinen Speedi aus Nöstlingers Buch zu bunt mit den streitenden Eltern wird, fasst er den Entschluss, zur Oma zu ziehen. Er packt seine Siebensachen und macht sich auf den Weg zu ihr. In traditionellen Familienzusammenhängen spielten die Großeltern früher, schon gar am Land, eine wichtige Rolle. Das hat sich vor allem in der Stadt verändert. „Ihre Rolle wird oft unterschätzt“, meint Psychologe Werneck. „Sie sind Bezugspersonen über die Eltern hinaus, die konstant bleiben. Im Sinne der Stabilität können sie also eine wichtige Rolle spielen. Man kann oder sollte sie vielleicht sogar stärker einbeziehen.“ Aber auch hier gelte: Man müsse differenzieren, auch Beziehungen zwischen Großeltern und Eltern seien nicht immer einfach.

Wichtig für Kinder sind zudem andere erwachsene Bezugspersonen, die im Streitfall nicht unmittelbar involviert sind, so Werneck. „Es ist gut, wenn man einen Onkel, eine Tante oder eine Freundin der Mutter hat, denen man sich zuerst anvertrauen kann. Wichtig ist es auch deshalb, weil das Kind dann lernt, dass nicht alle Erwachsenen gleich agieren und reagieren, dass sie unterschiedliche Meinungen haben oder auch Erziehungsstile. Zu lernen, damit umzugehen, ist für Kinder wichtig.“

Größere Auswahl an Regenschirmen

Das Buch von Christine Nöstlinger endet nicht in der Familienidylle. Wie es weitergeht, ist nicht klar. Ein Zwischenfall bringt alle Beteiligten zumindest einmal zusammen, die Eltern und ihre neuen Lebensgefährten arrangieren sich. Die letzte Szene spielt in einem Restaurant. Sandwichkind Ani hält fest:

„Vielleicht sind wir wirklich eine merkwürdige Gesellschaft. (…) Aber ich finde, Hauptsache Gewissheit ist da, dass man nicht alleine im Regen stehen gelassen wird, wenn man dringend einen Regenschirm braucht. (…) Und dass wir eine größere Auswahl an Regenschirmen haben als andere Kinder, das ist ja auszuhalten.“